Auf dem Foto wird der Weg zu einer alten Begräbnisstätte gewiesen. Was heisst "Vanha hautausmaa"? Und wie kann der Erdboden im Winter so glühen wie auf diesem Foto? Was ist die Idee zu dieser Bilderserie, und warum gehört sie zum Re-Institutionalize-Projekt?

Auf dem Schild steht auf finnisch und schwedisch: Der alte Friedhof. Die Schrift ist mit hochreflexiven Farben gemalt, was wohl die Einstellung meiner Digitalkamera verwirrt hat. Die Fotos hatten schon in der Originalversion sehr komische und unterschiedliche Farbtöne, ich habe die farblichen Unterschiede noch ein bisschen deutlicher gemacht, um bestimmte Stimmungen zu schaffen. Die Idee zu dieser Dokumentation ist bei einem nächtlichen Spaziergang am 25. Dezember 2004 in Lovisa in Finnland entstanden. Ich wollte diesen Spaziergang auf dem Friedhof als eine Ausstellung betrachten. - Die früheren Re-Institutionalize-Projekte waren auch eng mit Gesten verbunden, aber Gesten, die immer eine konkrete künstlerische Referenz hatten; ein Objekt irgendwo hinzustellen, zum Beispiel. Hier ist die Geste das Sehen und das Erleben eines spezifischen Ortes.









Zeigst du mit diesen Bildern vom nächtlichen Friedhof im Winter etwas von jener künstlichen Ruhe, die Baudelaire als seine ironische Haltung umschrieb, oder handelt es sich um eine melancholische Bildersammlung? Das kalte Licht der Laternen, die Lichter auf den Schneefeldern, Häufchen wie von glühenden Kohlen - Lichter, die vergebens Mond, Sonne und Feuer zu ersetzen suchen, das sind anschauliche Symbole. Aber vielleicht ist etwas anderes wichtig. Ich habe erst beim zweiten Hinsehen begriffen, dass die Fotos eine Reihenfolge haben, nicht bloß den Ort oder ein Thema zeigen. Kannst du sagen, was du beschreibst, welche Gefühle oder Gedanken zur Entstehung beitrugen?

Es war nicht mein Ziel, nur eine Bilderreihe von einem Friedhof zu machen. Ich wollte mein Erlebnis – die emotionale und die mentale Disposition während meines Spazierganges – kommunizieren. Ich bin am 25. Dezember auf einen nächtlichen Spaziergang ausgegangen, weil ich sehr traurig war und meine Gedanken an der frischen Luft sammeln wollte. Dann bin ich irgendwie dort gelandet, und dieser Ort schien mir wunderbar ausserirdisch... Der "spleen" von Baudelaire hatte mich voll erwischt, und plötzlich bin ich auf eine ganz andere mentale Ebene gekommen. Diese Erfahrung war sehr stark, wie das Erlebnis einer schönen Ausstellung. Und dann habe ich gedacht, dass ich versuchen sollte, dieses Erlebnis als Ausstellung festzuhalten und weiterzugeben. Ich bin schnell nach Hause gegangen, um eine Kamera zu holen und bin dann wieder zurückgegangen und habe versucht, mein Erlebnis durch die Bilder zu rekonstruieren. Es ist also keine "live"-Reportage, sondern die Rekonstruktion einer Erfahrung. Eine Art von "re-enactment" in Bildern.









Gibt es eine Aufgabe in der zeitgenössischen Kunst, die sich dir stellt, oder suchst du eine Abgrenzung von bestimmten Phänomenen? Muss sich der Betrachter von seinen Assoziationen lösen und das Ganze als Provokation verstehen, als einen Blick aus einer anderen Welt, in der die Zeit aufgehoben ist – einer Welt, die so real ist wie die Höllenkreise, die Dante in seiner "Göttlichen Komödie" durchschritt?

Es gibt schon für mich so etwas wie eine Mission der Kunst. Ich komme aus einer Familie, in der es mehrere Priester gab. Einer, Kurt Paetau, war sogar Poet und Priester. Predigen finde ich übrigens an sich sehr interessant als eine Form der Mitteilung... Ich bin selber überhaupt nicht religiös, aber ich schätze es, wenn die Kunst es schafft, eine Form von Religiösität zu übernehmen. Am 25. Dezember gehen sehr viele Menschen auf den Friedhof, für viele ist es das einzige Mal im Jahr. Als ich dort war, habe ich keinen Menschen mehr gesehen, aber die Kerzen leuchteten noch. Das Gefühl von Zeitlosigkeit war sehr stark. Der Schnee hat auch dazu beigetragen, das Ganze als eine schlafende Traumlandschaft zu gestalten.









Vielleicht zeigen die Fotografien ein einziges Gegenüber: die menschliche Einsamkeit; oder deren Spiegelbild oder Maske oder Gleichnis. Etwa so, wie Arcimboldo im 16. Jahrhundert Allegorien des Sommers oder des Winters - aus den jeweiligen Lebewesen zusammengesetzte Portraits - in einer gewissen reichhaltigen Vollständigkeit malte (und damit auch seine künstlerische Imagination vorführte). Oder vielmehr umgekehrt: Bei Arcimboldo das Vergängliche, Wiederkehrende, das Leben; hier das Vergangene, Unbekannte, der Tod.

Ich finde Allegorien sehr wichtig und hoffe, dass ich in der Zukunft mehr damit arbeiten werde. Aber für Allegorien muss man ständig neue Erscheinungsbilder entwickeln. In diesem Fall war es nicht meine Absicht, eine allegorische Arbeit zu machen, und ich bin mir auch nicht so sicher, ob das Projekt wirklich eine Allegorie darstellt. Es hat aber allegorische Tendenzen... Wenn es meinen "spleen" jenes Abends im Jahre 2004 auszudrücken vermag, bin ich erstmal zufrieden. Man darf aber nicht die anderen Komponenten dieser Arbeit vergessen: dass es sich um eine Rekonstruktion handelt; und dass die Arbeit in Form einer Dokumentation erscheint, also zusammen mit diesem Text. Und dass der Friedhof hier zur Kunstinstitution mutiert, zu einem Ort der künstlerischen Begegnung.









Ist es schwierig, den Menschen in seinen Erscheinungsweisen und deren Abbildungen, Kopien und Fälschungen – oder, wie hier, in seinem Nichterscheinen – zum Thema zu wählen, ist das nicht ein sehr grundsätzlicher, weiter, ein sehr großer Anspruch?

Vielleicht, aber das ist das Thema, das mich interessiert. Und es ist ein sehr weites Thema - zum Glück! Der Anspruch ist aber nicht mit dem Thema gegeben, sondern eher eine Frage dessen, wo man ihn setzt, und mit welchem Anspruch man sich irgendeinem Thema nähert. Mein größter Anspruch ist wahrscheinlich, zu denken, dass das, was ich mache, irgend jemanden interessiere; und dass ich mich deswegen an so viele Menschen wie möglich wenden will.









Hältst du es für notwendig, auf Phänomene wie die Globalisierung und das Internet zu reagieren, auf politische und technische Veränderungen? Sind diese Phänomene tatsächlich so bedeutsam? Inwiefern verändern sie individuelle ästhetische Konzeptionen und die von Gruppen und Institutionen? Oder müsste ich fragen, ob sie das Bild, das der Mensch von sich selber hat, verändern?

Für mich scheint es sinnvoll, so zu arbeiten. Ich glaube aber nicht, dass ich direkt auf die von dir genannten Phänomene reagiere. Diese Phänomene agieren aber auf mir, und zwar jeden Tag, seit Jahren; irgendwann sind sie Teil meines Lebens geworden und beeinflussen die Art und Weise, in der ich denke, kommuniziere und Kunst mache. Ich denke also schon, dass sie unsere ästhetischen Auffassungen und unsere Auffassungen von Gruppen und Institutionen verändern. Das heisst, dass wir uns selbst immer wieder unserer Weltauffassung anpassen müssen, und das verändert auch das Bild, das wir von uns selber haben. Ich würde trotzdem nicht Phänomene wie die Globalisierung und das Internet zu sehr hochheben. Letztendlich stehen wir doch jeden Morgen vor dem Spiegel und wundern uns, wer uns da anschaut und was wir mit ihm/ihr anfangen sollten.









Das erste Foto, das den Weg weist, erinnert mich vage an William Turners "Fighting Temeraire". – Es gibt die bekannte Legende, dass Turner, und auch wenigstens ein anderer Künstler, sich im Schneesturm aufhielten, um die Kräfte der Natur aufzuzeichnen, die gewaltiger sind als der Mensch. Siehst du dich in einer solchen Tradition?

Turners Bild "The Fighting Téméraire Tugged to Her Last Berth to Be Broken Up"*, das ist eine sehr schöne und wichtige - politische - Allegorie! Ich kann mich aber nicht wirklich in der von dir genannten Tradition sehen - obwohl ich mich gut daran erinnere, wie meine Finger fast einfroren, als ich die Fotos auf dem Friedhof machte…

* http://www.svcc.cc.il.us/academics/classes/murray/hum210/terrimt.htm









Interview: Heike Wetzig & Kristofer Paetau, Februar 2005

Re-Institutionalize # 06: Der Alte Friedhof