Das Bild, das du da zeigst, wo war es ausgestellt, und wie hast du es angefertigt?

Corpulent Ballerina (2001) ist ein großformatiges Gemälde (267 x 196 cm) in silbrigen Grautönen. Es ist mit irisierenden Acrylfarben auf Papier gemalt. Ich wollte es schon seit langem in einer Ballettschule ausstellen; jetzt ist das im Dansstudio Arabesque (Deurne, Belgien) geschehen. Vorher wurde das Projekt dreimal abgelehnt: erst vom Karlinsky Spektrum in Prag, die Tanzlehrerin empfand das Bild als "unpassend". Dann wurde es vom Königlichen Ballett von Flandern in Antwerpen abgelehnt, weil der künstlerische Leiter das Projekt als "zu experimentell für diese Institution" bezeichnete. Und schliesslich von der Schule des Königlichen Balletts, weil es "nicht ins Programm reinpasste".





Du zeigst dein Bild an einem Ort, in den sich die Ballettpose sozusagen perfekt, wie eine große Spiegelung oder Begleitung, einfügt. Es erscheint wie der eine große Schatten der kleinen Tänzerinnen. Wie verstehst du diese Zusammenstellung, abgesehen von dem Oberflächenreiz der Gegensätze auf den Fotos?

Ich habe das Bild nach einem Schwarzweiss-Foto gemalt, das ich auf einer Porno Web Site gefunden habe. Das Foto hat mich sofort begeistert, für mich ist es ein Bild mit großem Potential. Die korpulente Frau strahlt eine graziöse Energie aus. Sie ist sehr elegant… Ich wollte eine hochklassige Tanzschule mit der Realität dieses Bildes konfrontieren. Ich wollte das Bild "beim Tanzen" sehen. Vor allem wollte ich eine Übungssituation observieren. Das Gemälde war in einer Tanzklasse aufgehängt, in die man nur zum Trainieren reinkommt. Also kein Ort der Kontemplation, sondern ein Ort der Aktion.










Tänzer und Tänzerinnen entwickeln sich durch kontinuierliches Proben. Das bedeutet Spaß und eine jahrelange Anstrengung bei der Arbeit. Das ist vielleicht das, was du auf deinen Fotos andeutest, die dichte Arbeitsatmosphäre, das Gemeinschaftliche, auch mit Blick auf das Ziel des Trainings, die Aufführungsreife, die "vollkommene" Leistung. Siehst du das als Parallele zur Arbeit des Bildenden Künstlers, und wolltest du das darstellen?

Ich konnte 5 verschiedene Klassen begleiten und fotografieren. Das waren die Kindertanz-Klasse für 5-jährige, die Klassik-Klasse für 8-jährige, die Contemporary-Dance-Klasse für 13-jährige, Klassischer Tanz für 16-jährige und Klassischer Tanz für 18plus-jährige… Es fing mit Spielen und Lachen an und endete in militärischer Disziplin und Tränen. Wobei diese Schule keine professionellen TänzerInnen ausbildet, sondern die Leute tanzen nur aus Spaß. Trotzdem war es sehr seriös… Ehrgeizige Amateure (im Sinne von "Liebhaber") sind schon immer meine Favoriten gewesen, auch in der Kunst. Die Energie, die solche "Amateure" ausstrahlen, ist einfach viel lebendiger und berührt mich viel mehr als das, was "Profis" leisten.





In den Fotos drückt sich eine gewisse Vollständigkeit aus: die sich fließend bewegenden, farbig gekleideten Tänzerinnen und Tänzer, und dahinter die fröhliche, grosse, silbrige Ballerina. Du zeigst auch Leute, die in den Eingangsbereich des Trainingsraumes schauen. Also das Schauen spielt eine Rolle auch beim Trainieren...?

Für mich war es ein großes Glück, bei den 5 Klassen dabei sein zu dürfen. Es war jedesmal ein tolles Spektakel mit live Klaviermusik, Tanz, Unterricht, dem Bild… Eine sehr lebendige und körperliche Situation. Das Gemälde hat sich sofort in die Situation gut integriert, wie ein Komplize für die TänzerInnen, denke ich. Das Observieren und Koordinieren des eigenen Körpers mit den anderen Körpern, die Bewegungen und der Rhythmus im Raum, das alles trug zu der Situation bei, und das Gemälde war ein Teil dieser Situation. Es handelte sich mehr um eine Wahrnehmung des Gemäldes als Präsenz, nicht so sehr um ein direktes Hinschauen, dazu gab es kaum Zeit für die TänzerInnen.








Es macht tatsächlich den Eindruck, als hätten die TänzerInnen ein fröhliches, unkompliziertes Verhältnis zu ihrer Arbeit und auch zu der Ballerina, die ja kaum ein tänzerisches Vorbild darstellt. Wie hast du das erlebt, wie wurde das Bild angenommen?

Das fröhliche und unkomplizierte Verhältnis hat mich auch sehr beeindruckt. Es gab bei den Kommentaren große Unterschiede, die viel mit dem unterschiedlichen Alter der TänzerInnen zu tun hatten. Bei den 5-jährigen gab es am Anfang eine große Kontroverse: ob ein Mann oder eine Frau auf dem Bild zu sehen wären… Die meisten sagten, es sei ein dicker Mann! Ich hatte das Gefühl, dass die 8-jährigen sich mehr für den Künstler als für das Kunstwerk interessierten - obwohl ich später erfuhr, dass manche (mit Recht) die Lehrerin fragten, wieso die Frau nackt tanze. Die 13-jährigen waren eher cool, aber manche haben gelächelt. Das war die Contemporary-Dance-Klasse, und die mussten sich nicht so sehr mit der Ballerina identifizieren. Die 16-jährigen waren interessiert, aber distanziert und seriös. Die hatten einen sehr strengen und professionellen Lehrer. Bei den 18plus-jährigen gab es dann am Ende mehr Feedback und Diskussionen. Die haben sich auch für den künstlerischen Prozess interessiert.





Waren zum Beispiel Edgar Degas’ Pastellstudien von Ballerinen, hinter der Bühne oder beim Tanzen, interessant für deine Fotos?

Ich finde besonders Degas' Skulptur der "jungen 14-jährigen Tänzerin" sehr schön. Die Kombination von Bronze (die Figur) und echtem Stoff (das Röckchen, das Tutu) ist besonders anregend. Sexuelle Anregung ist beim Tanzen immer ein Thema, und Degas hat das sozusagen "en passant" in die Arbeit reingebracht. Das war für mich eine wichtige Frage, als ich die Fotos machte und später auswählte – wie ich mit dieser Sexualität umgehen kann. Solange der Blick nicht in Voyeurismus verfällt, ist es OK, denke ich. Auch die "Art" der Sexualität verändert sich mit dem Alter und dem Geschlecht der TänzerInnen - es gab dort, glaube ich, nur 2 oder 3 Jungen insgesamt. Was ich am schwierigsten fand, war, wie ich die 5-jährigen fotografieren sollte, da diese so unbewusst mit ihren Körpern umgehen und man dann als Fotograf eine noch größere Verantwortung hat.





Aber was bedeutet dann die Ballerina? Sie zeigt nicht die kontinuierliche Entwicklung eines ästhetisch geformten Körpers (obwohl, die Pose, die Arabesque, scheint zu "stimmen"), noch entspricht sie der Zartheit und feinen Eleganz der Mädchen bei Degas, die diese für den Tanz prädestiniert erscheinen lassen und die sich auch der Augenlust des Betrachters anbieten. Im Grunde zeigt deine Ballerina mehr "Gesicht", und der ganze nackte Körper sagt vielleicht etwas anderes aus als das Vergnügen an der Versunkenheit in eine Arbeitsleistung (des eigenen Körpers).

Ich mag sie und finde sie faszinierend, aber ich weiss nicht genau, was sie bedeutet. Für mich hat sie auf jeden Fall eine sehr positive Bedeutung. Vielleicht hat das etwas mit Lebenslust zu tun, oder mit Freiheit und mit Menschenwürde – oder zumindest Selbstachtung? Der eigene nackte Körper ist "angenommen" und strahlt Lebendigkeit aus; wovon die meisten Top-Models nur träumen können. Insofern hat sie auch etwas ziemlich Provokatives…





Die Zufriedenheit der Ballerina in ihrer fixierten Pose, die Wärme der anderen TänzerInnen, die in den Gesichtern, den Farben spürbar wird, ist das ein gemeinsames Begehren? Ich denke an Gustave Courbets "faire de l’art vivant", ein Anspruch, Kunst und Gesellschaft zusammenzubringen.

Courbet ist für mich ein großes Vorbild, als Künstler und als Mensch. Ich finde seinen Mut, sein Engagement und seine Sensibilität sowohl im künstlerischen und politischen als auch im menschlichen Bereich exemplarisch. Natürlich hat sich in 150 Jahre Einiges verändert, aber seinen Anspruch "faire de l'art vivant" – lebende, lebendige Kunst zu machen -, unterschreibe ich jederzeit. Die Frage ist nur, wie man das heute als Künstler schafft.







Mit dem Re-Institutionalize Projekt versuchst du, Orten, die gewöhnlich keine Ausstellungsorte sind, die Funktion eines Showroom zuzuschreiben. Hast du das Gefühl, nach dieser fünften Ausstellung, dass das gelungen ist?

Ich bitte dich! Es geht nicht nur darum, aus einem ungewöhnlichen Ort einen Showroom zu machen! Es geht darum, eine Alternative zu der Institutionalisierung von Kunst, Künstler und Publikum anzubieten. Die Institutionalisierung betrifft nicht nur die Kunst und die Künstler, sondern auch das Publikum und die (fehlende) Beziehung zwischen Kunst und Publikum und zwischen Künstler und Publikum. Und da gibt es eine Menge Arbeit zu tun! Das schaffe ich auch nicht allein, und paradoxerweise müssten vor allem die Institutionen selbst an der Re-Institutionalisierung teilnehmen, um einen Paradigmenwechsel zu realisieren – und zwar nicht nur dadurch, dass die DJs einladen…





Es muss da eine sozusagen anthropologische Idee geben, die dich antreibt, diese Sammlungen von Menschenbildern zusammenzustellen und mit Menschen ausserhalb des normalen Kunstbetriebs zu konfrontieren. Kennst du Jan Hoets Projekt Chambre d’Amis aus den 80er Jahren oder die Idee des Musée de l’Homme?

Ja, besonders Jean Rouch und seine Filme und Fotografien finde ich wichtig. Er war ein großer Fan und eine tragende Persönlichkeit des Musée de l'Homme – einer äußerst wichtigen Kunstinstitution in Europa in den 50er Jahren. Unter anderem ist daraus die Nouvelle Vague Generation entstanden! Jan Hoets Projekt Chambre d'Amis (die Ausstellung fand bei Privatpersonen in deren Wohnung statt) ist ein tolles Beispiel von Re-Institutionalisierung. Es ist zu einer Legende geworden und wird, wie ein guter Rotwein, nur besser mit der Zeit… In der Kunstwelt wird leider sehr viel Exotismus kultiviert, aber nur wenig Anthropologie ausgeübt. Ich bin kein Anthropologe, aber eine anthropologische Idee gibt es ganz bestimmt in meiner künstlerischen Recherche.





Bedeutet Dir Authentizität etwas?

Authentizität ist immer ein wichtiger Maßstab für mich. Es ist aber kein Synonym für Martyrium oder für gute Absichten.





Man könnte dein Re-Institutionalize Projekt als Umkreisen deines eigenen Daseins als Künstler verstehen... Wie denkst du darüber?

Es ist sicherlich mein wichtigstes Projekt bisher. Auch weil es ein Antrieb für andere, unterschiedliche Projekte ist. Zur Zeit ist es das Zentrum meiner künstlerischen Recherche und widerspiegelt mein "Dasein" als Künstler. Vor allem hilft es mir, mein "Dasein" als Künstler durch Praxis und Theorie zu definieren.





Ist es schwer, als Künstler allein zu arbeiten?

Ja, aber ich arbeite ja nicht allein – Du bist ja da, und ein paar andere Freunde auch. Und es werden langsam mehr; also gibt es keinen Grund zu weinen, sondern nur gute Gründe, mehr zu arbeiten.





Siehst du das Projekt eher als eine Provokation oder funktioniert es unabhängig von einer Kritik an den etablierten Institutionen? Sobald Ballettschulen zu Ausstellungsräumen werden, sind wir dann in der von Warhol prophezeiten Kunstwelt angekommen - und ist da noch ein künstlerisches Problem?

Ich hoffe, dass das Projekt als ein funktionierendes Modell gesehen werden kann. Das Problem ist vor allem, dass Warhols Prophezeiungen schon Realität geworden sind, und dadurch sind viele neue Probleme entstanden. Aber letztendlich sind es keine Probleme, sondern neue Anregungen, Kunst zu machen!





Interview: Heike Wetzig & Kristofer Paetau, November 2004

Re-Institutionalize # 05: Dansstudio Arabesque

Danke: Dansstudio Arabesque
http://studio-arabesque.com